Chile
und Deutschland haben über die große geografische Distanz hinweg eine gute
Partnerschaft aufgebaut, die auf einem tragfähigen Fundament ruht. Das gilt für
die wirtschaftlichen ebenso wie für die politischen Beziehungen. Mein Besuch in
Chile ist Ausdruck dieses guten Standes der Beziehungen, aber auch Ausdruck des
Willens, die Beziehungen zwischen Deutschland und Chile weiter auszubauen.
Deutschland hat sich immer als Partner und Freund Chiles verstanden. Wir haben
nach dem Ende der Militärzeit die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit
Chile sofort wieder aufgenommen. Entwicklungshelfer, Experten und politische
Stiftungen sind ins Land zurückgekehrt und haben bei der Stärkung der Demokratie
in Chile geholfen. – Im Rahmen der technischen und finanziellen Zusammenarbeit
sind von Deutschland seit 1990 mehr als 450 Mio. Euro in die Entwicklung Chiles
investiert worden. Sie werden verstehen, dass wir uns sehr darüber freuen und
auch ein wenig stolz darauf sind, dass wir mit dieser Arbeit einen Beitrag zur
Entwicklung Ihres Landes leisten konnten.
Deutschland steht Chile weiterhin als starker Partner in Europa zur Verfügung.
In wirtschaftlich schwieriger Zeit schafft Deutschland im Moment auf dem
Reformweg die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Man kann auf die
Innovationsfähigkeit Deutschlands vertrauen und optimistisch in die Zukunft
sehen. So ist Deutschland derzeit das beliebteste Land in der Europäischen Union
für ausländische Investoren.
Rückblick
Zum guten Verhältnis zwischen unseren Ländern haben ganz entscheidend jene
deutschen Einwanderer beigetragen, die vor jetzt 150 Jahren Deutschland zwar
verließen, nicht aber ihre Herkunft und ihre Heimat vergaßen. Viele ihner
Nachkommen sprechen noch heute gut Deutsch und halten in Vereinen und Schulen
den Kontakt zu Deutschland aufrecht. Ihnen und der heutigen deutsch-chilenischen
Gemeinschaft gilt mein Besuch in Valdivia im Süden Chiles. Ich freue mich
darauf, von ihren Erfahrungen in der Vergangenheit und ihren Erwartungen an die
Zukunft zu hören.
150 Jahre deutsche Einwanderung sind Grund genug für einen Rückblick auf ein
Stück Geschichte, das für Chilenen und Deutsche gleichermaßen von Bedeutung ist.
Die deutsche Einwanderung nach Chile war Teil einer großen Bewegung, in der
Millionen von Europäern ihre Heimat verlassen und sich auf allen Kontinenten
angesiedelt haben. Was jedoch die Einwanderung nach Chile von anderen Ländern
unterscheidet, ist, dass sie hier zu großen Teilen organisiert war. Der deutsche
Naturforscher Bernard Philippi wurde 1848 von der chilenischen Regierung
beauftragt, in Deutschland Auswanderungswillige für Chile anzuwerben.
Vor mehr als 150 Jahren traten dann die ersten Deutschen die Fahrt ins Ungewisse
an. Ich glaube, dass wir uns heute nur schwer vorstellen können, wie diese
Menschen damals gefühlt und gedacht haben, die von Deutschland aus die lange,
anstrengende und gefährliche Reise antraten in dieses für sie so ferne,
unbekannte Land. Sie waren aufgebrochen aus einem Deutschland, in dem kurz zuvor
die erste demokratische Revolution niedergeschlagen wurde. Sie kamen aus einem
Land, das in weiten Teilen von großer Armut geprägt war und in dem demokratische
Grundrechte nicht existierten.
Die chilenische Regierung unterstützte ihre neuen Mitbürger und respektierte den
spezifischen Charakter der deutschen Kolonie. Dennoch waren die ersten Jahre für
die insgesamt über 6.000 deutschen Familien, die in der Mitte des 19.
Jahrhunderts in den mittleren Süden kamen, von Entbehrungen und Mühen geprägt.
Chile und die Chilenen gaben diesen Menschen eine Chance, durch ihre Arbeit und
ihre Leistung zu überzeugen und sich als vollwertige und respektierte Bürger in
diese Gesellschaft zu integrieren. Und die Deutschen nutzten diese Chance. Sie
gründeten Schulen, Firmen, Kirchen, Sport- und Feuerwehrvereine und machten das
Land nutzbar. Valdivia ist hierfür das beste Beispiel. Von einer provinziellen
Kleinstadt entwickelte es sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen
Brauereien, Gerbereien, Werften und Fabriken zu einer der reichsten Städte
Chiles.
Die Einwanderer und ihre Nachkommen identifizierten sich schnell mit ihrer neuen
Heimat. Begriffen sich die erste und zweite Generation noch als Deutsche in
Chile, fühlten sich die Nachkommen der dritten und vierten Generation schon eher
als Chilenen deutscher Herkunft, die jedoch mit großem Engagement ihre aus
Deutschland mitgebrachten Traditionen, ihre Sprache und Kultur pflegten. Das ist
bis heute so geblieben. Der Beitrag dieser Einwanderer zur Entwicklung der
chilenischen Gesellschaft übersteigt bei weitem ihre zahlenmäßige Bedeutung.
Nach der ersten großen Welle der deutschen Einwanderung in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts und einer kleineren Zahl von Deutschen, die nach dem 1.
Weltkrieg in Chile eine neue Heimat fand, kamen in den 30er Jahren des 20.
Jahrhunderts viele Deutsche jüdischen Glaubens auf der Flucht vor dem
nationalsozialistischen Terrorregime nach Chile, das auch ihnen Zuflucht bot.
Und schließlich kehrten in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts viele Chilenen
aus dem Exil in Deutschland in ihre alte Heimat zurück, die sie während des
Militärregimes verlassen mussten.
Beste Voraussetzungen für bilaterale Beziehungen
Die Erfolgsgeschichte der deutschen Einwanderer und die große Zahl von Chilenen,
die sich heute als Chilenen deutscher Herkunft begreifen, bieten hervorragende
Möglichkeiten für die bilateralen Beziehungen. Erstens, das ist naheliegend,
müssen wir die schon existierenden Bindungen für ihren weiteren Ausbau nutzen.
Die Chilenen deutscher Herkunft sind ein wichtiges Potential beim Ausbau und der
Intensivierung unserer Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft und Kultur. Schon
heute sind sie die entscheidenden Träger deutscher Schulen und Vereine in Chile.
Sie halten Deutsch als Sprache, als kulturelle Alternative und als Ergänzung zu
den Weltsprachen Englisch und Spanisch hoch und üben mehr Einfluss aus, als es
unseren Kulturinstituten möglich ist. Dafür sind wir sehr dankbar. Ich freue
mich sehr darüber, dass auch Präsident Lagos den Beitrag der Chilenen deutscher
Herkunft zum Aufbau Chile besonders würdigen will und mich nach Valdivia
begleiten wird.
Zweitens stellt sich für mich die Frage, ob wir für Deutschland etwas aus dieser
Geschichte der Integration der Deutschen in die chilenische Gesellschaft lernen
können.
Deutschland, das im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland war, ist heute ein
Einwanderungsland. Als die ersten angeworbenen Arbeitssuchenden aus Südeuropa zu
uns kamen, nannte man sie «Gastarbeiter» - mit der Vorstellung, sie würden
früher oder später wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Heute leben mehr als sieben Millionen Ausländer in Deutschland. Sie haben unsere
Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Auch wenn es zwischen den
Parteien in Einzelfragen noch Differenzen gibt: Wir haben inzwischen begriffen,
dass Zuwanderung nicht dem Zufall überlassen werden kann, sondern gesetzlich
geregelt werden muss. Wir haben begriffen, dass Integration eine Aufgabe ist,
die die ganze Gesellschaft angeht. Damit das Zusammenleben der unterschiedlichen
Kulturen in einem Land und in einer Gesellschaft gelingt, halte ich einige
Prinzipien für unerlässlich, die sich auch am Beispiel der deutschen
Einwanderung nach Chile ablesen lassen:
Niemand soll gezwungen werden, seine Kultur aufzugeben. Wie heute noch ein
Chilene deutscher Herkunft die Einwanderung seiner Großeltern oder Urgroßeltern
als Teil seiner Identität begreift, so muss es auch in Deutschland lebenden
Ausländern möglich sein, ihr eigene Kultur weiter zu pflegen. Gleichzeitig aber
müssen wir der Bildung von kulturellen Inseln entgegentreten, um einen gewissen
Grad an Integration zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dass die Einwanderer
grundsätzlich bereit sein müssen, die Kultur des Aufnahmelandes zu respektieren,
so wie sie die Akzeptanz ihrer eigenen Kultur von uns erwarten können.
Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Zuwanderern darf nicht und wird
in Deutschland nicht geduldet werden. Wir wiederum müssen erwarten, dass sich
Ausländer an die Gesetze und an die freiheitlich-demokratische Verfassung
halten. Die Werte, die diese Verfassung zum Ausdruck bringt, sind für uns
unverzichtbar.
Chile und die Chilenen haben den Einwanderern aus Deutschland eine Chance
gegeben, sich in die chilenische Gesellschaft zu integrieren, und letztlich hat
ganz Chile von dieser Aufnahmebereitschaft und von der Integrationsbereitschaft
der Einwanderer profitiert. Dieser Erfolg sollte für uns in Deutschland, aber
nicht nur dort, Vorbild und Ansporn zugleich sein.
Mit freundlicher Genehmigung von
www.condor.cl
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