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Grußwort des

Bundespräsidenten Johannes Rau

(21. November 2003)

Chile und Deutschland haben über die große geografische Distanz hinweg eine gute Partnerschaft aufgebaut, die auf einem tragfähigen Fundament ruht. Das gilt für die wirtschaftlichen ebenso wie für die politischen Beziehungen. Mein Besuch in Chile ist Ausdruck dieses guten Standes der Beziehungen, aber auch Ausdruck des Willens, die Beziehungen zwischen Deutschland und Chile weiter auszubauen.

Deutschland hat sich immer als Partner und Freund Chiles verstanden. Wir haben nach dem Ende der Militärzeit die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Chile sofort wieder aufgenommen. Entwicklungshelfer, Experten und politische Stiftungen sind ins Land zurückgekehrt und haben bei der Stärkung der Demokratie in Chile geholfen. – Im Rahmen der technischen und finanziellen Zusammenarbeit sind von Deutschland seit 1990 mehr als 450 Mio. Euro in die Entwicklung Chiles investiert worden. Sie werden verstehen, dass wir uns sehr darüber freuen und auch ein wenig stolz darauf sind, dass wir mit dieser Arbeit einen Beitrag zur Entwicklung Ihres Landes leisten konnten.
Deutschland steht Chile weiterhin als starker Partner in Europa zur Verfügung. In wirtschaftlich schwieriger Zeit schafft Deutschland im Moment auf dem Reformweg die Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Man kann auf die Innovationsfähigkeit Deutschlands vertrauen und optimistisch in die Zukunft sehen. So ist Deutschland derzeit das beliebteste Land in der Europäischen Union für ausländische Investoren.

Rückblick

Zum guten Verhältnis zwischen unseren Ländern haben ganz entscheidend jene deutschen Einwanderer beigetragen, die vor jetzt 150 Jahren Deutschland zwar verließen, nicht aber ihre Herkunft und ihre Heimat vergaßen. Viele ihner Nachkommen sprechen noch heute gut Deutsch und halten in Vereinen und Schulen den Kontakt zu Deutschland aufrecht. Ihnen und der heutigen deutsch-chilenischen Gemeinschaft gilt mein Besuch in Valdivia im Süden Chiles. Ich freue mich darauf, von ihren Erfahrungen in der Vergangenheit und ihren Erwartungen an die Zukunft zu hören.
150 Jahre deutsche Einwanderung sind Grund genug für einen Rückblick auf ein Stück Geschichte, das für Chilenen und Deutsche gleichermaßen von Bedeutung ist. Die deutsche Einwanderung nach Chile war Teil einer großen Bewegung, in der Millionen von Europäern ihre Heimat verlassen und sich auf allen Kontinenten angesiedelt haben. Was jedoch die Einwanderung nach Chile von anderen Ländern unterscheidet, ist, dass sie hier zu großen Teilen organisiert war. Der deutsche Naturforscher Bernard Philippi wurde 1848 von der chilenischen Regierung beauftragt, in Deutschland Auswanderungswillige für Chile anzuwerben.
Vor mehr als 150 Jahren traten dann die ersten Deutschen die Fahrt ins Ungewisse an. Ich glaube, dass wir uns heute nur schwer vorstellen können, wie diese Menschen damals gefühlt und gedacht haben, die von Deutschland aus die lange, anstrengende und gefährliche Reise antraten in dieses für sie so ferne, unbekannte Land. Sie waren aufgebrochen aus einem Deutschland, in dem kurz zuvor die erste demokratische Revolution niedergeschlagen wurde. Sie kamen aus einem Land, das in weiten Teilen von großer Armut geprägt war und in dem demokratische Grundrechte nicht existierten.
Die chilenische Regierung unterstützte ihre neuen Mitbürger und respektierte den spezifischen Charakter der deutschen Kolonie. Dennoch waren die ersten Jahre für die insgesamt über 6.000 deutschen Familien, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den mittleren Süden kamen, von Entbehrungen und Mühen geprägt. Chile und die Chilenen gaben diesen Menschen eine Chance, durch ihre Arbeit und ihre Leistung zu überzeugen und sich als vollwertige und respektierte Bürger in diese Gesellschaft zu integrieren. Und die Deutschen nutzten diese Chance. Sie gründeten Schulen, Firmen, Kirchen, Sport- und Feuerwehrvereine und machten das Land nutzbar. Valdivia ist hierfür das beste Beispiel. Von einer provinziellen Kleinstadt entwickelte es sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Brauereien, Gerbereien, Werften und Fabriken zu einer der reichsten Städte Chiles.
Die Einwanderer und ihre Nachkommen identifizierten sich schnell mit ihrer neuen Heimat. Begriffen sich die erste und zweite Generation noch als Deutsche in Chile, fühlten sich die Nachkommen der dritten und vierten Generation schon eher als Chilenen deutscher Herkunft, die jedoch mit großem Engagement ihre aus Deutschland mitgebrachten Traditionen, ihre Sprache und Kultur pflegten. Das ist bis heute so geblieben. Der Beitrag dieser Einwanderer zur Entwicklung der chilenischen Gesellschaft übersteigt bei weitem ihre zahlenmäßige Bedeutung. Nach der ersten großen Welle der deutschen Einwanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und einer kleineren Zahl von Deutschen, die nach dem 1. Weltkrieg in Chile eine neue Heimat fand, kamen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts viele Deutsche jüdischen Glaubens auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Terrorregime nach Chile, das auch ihnen Zuflucht bot. Und schließlich kehrten in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts viele Chilenen aus dem Exil in Deutschland in ihre alte Heimat zurück, die sie während des Militärregimes verlassen mussten.

Beste Voraussetzungen für bilaterale Beziehungen

Die Erfolgsgeschichte der deutschen Einwanderer und die große Zahl von Chilenen, die sich heute als Chilenen deutscher Herkunft begreifen, bieten hervorragende Möglichkeiten für die bilateralen Beziehungen. Erstens, das ist naheliegend, müssen wir die schon existierenden Bindungen für ihren weiteren Ausbau nutzen. Die Chilenen deutscher Herkunft sind ein wichtiges Potential beim Ausbau und der Intensivierung unserer Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft und Kultur. Schon heute sind sie die entscheidenden Träger deutscher Schulen und Vereine in Chile. Sie halten Deutsch als Sprache, als kulturelle Alternative und als Ergänzung zu den Weltsprachen Englisch und Spanisch hoch und üben mehr Einfluss aus, als es unseren Kulturinstituten möglich ist. Dafür sind wir sehr dankbar. Ich freue mich sehr darüber, dass auch Präsident Lagos den Beitrag der Chilenen deutscher Herkunft zum Aufbau Chile besonders würdigen will und mich nach Valdivia begleiten wird.
Zweitens stellt sich für mich die Frage, ob wir für Deutschland etwas aus dieser Geschichte der Integration der Deutschen in die chilenische Gesellschaft lernen können.
Deutschland, das im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland war, ist heute ein Einwanderungsland. Als die ersten angeworbenen Arbeitssuchenden aus Südeuropa zu uns kamen, nannte man sie «Gastarbeiter» - mit der Vorstellung, sie würden früher oder später wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Heute leben mehr als sieben Millionen Ausländer in Deutschland. Sie haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Auch wenn es zwischen den Parteien in Einzelfragen noch Differenzen gibt: Wir haben inzwischen begriffen, dass Zuwanderung nicht dem Zufall überlassen werden kann, sondern gesetzlich geregelt werden muss. Wir haben begriffen, dass Integration eine Aufgabe ist, die die ganze Gesellschaft angeht. Damit das Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen in einem Land und in einer Gesellschaft gelingt, halte ich einige Prinzipien für unerlässlich, die sich auch am Beispiel der deutschen Einwanderung nach Chile ablesen lassen:

Niemand soll gezwungen werden, seine Kultur aufzugeben. Wie heute noch ein Chilene deutscher Herkunft die Einwanderung seiner Großeltern oder Urgroßeltern als Teil seiner Identität begreift, so muss es auch in Deutschland lebenden Ausländern möglich sein, ihr eigene Kultur weiter zu pflegen. Gleichzeitig aber müssen wir der Bildung von kulturellen Inseln entgegentreten, um einen gewissen Grad an Integration zu ermöglichen. Dazu gehört auch, dass die Einwanderer grundsätzlich bereit sein müssen, die Kultur des Aufnahmelandes zu respektieren, so wie sie die Akzeptanz ihrer eigenen Kultur von uns erwarten können. Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber Zuwanderern darf nicht und wird in Deutschland nicht geduldet werden. Wir wiederum müssen erwarten, dass sich Ausländer an die Gesetze und an die freiheitlich-demokratische Verfassung halten. Die Werte, die diese Verfassung zum Ausdruck bringt, sind für uns unverzichtbar.
Chile und die Chilenen haben den Einwanderern aus Deutschland eine Chance gegeben, sich in die chilenische Gesellschaft zu integrieren, und letztlich hat ganz Chile von dieser Aufnahmebereitschaft und von der Integrationsbereitschaft der Einwanderer profitiert. Dieser Erfolg sollte für uns in Deutschland, aber nicht nur dort, Vorbild und Ansporn zugleich sein.

Mit freundlicher Genehmigung von www.condor.cl